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Der Präsident und die Gedenkstätte

Hat Joe Biden etwas missverstanden?


Wenn nicht gerade eine weltweite Pandemie die Reisepläne von Geschichtsinteressierten weltweit behindert, verzeichnet die KZ-Gedenkstätte Dachau jährlich ca. 900.000 Besucher, etwa zwei Drittel davon kommen aus dem Ausland: zahlreiche Menschen aus verschiedenen Erdteilen mit unterschiedlichen Erwartungen an den Besuch, ungleichem Vorwissen und sicher auch höchst differenzierter Bereitschaft, das Gesehene und Vermittelte auf sich wirken zu lassen.

Eine schwierige Aufgabe also, der sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten täglich stellen müssen: Wie das Ungeheuerliche vermitteln, die Verbrechen der Täter sowie das ungezählte Leid der Opfer eindringlich erzählen, ohne durch grausame Eindrücke zu verstören?

Hinzu kommt, dass sich die Gedenkstätte auf historischem Ort als „offenes“ und leicht zugängliches Gelände anbietet: Es gibt keine Tickets, keine Warteschlangen und keinen ausgeschilderten Rundgang, den man zu befolgen hätte. Jede und Jeder ist frei, sich in individuellem Tempo fort- und weiterzubewegen, nach Belieben zu verweilen und die Dinge auf sich wirken zu lassen.

Als der nun amtierende und damalige Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Joe Biden, im Februar 2015 mit einer seiner Enkelinnen die KZ Gedenkstätte privat besuchte, nachdem er in den 80er-Jahren schon einmal dort war, wurde er von dem inzwischen verstorbenen Auschwitz-Überlebenden und Vizepräsidenten des Internationalen Dachau-Komitees, Max Mannheimer, begleitet.

Von diesem Besuch gibt Joe Biden in seinem erst kürzlich ins Deutsche übersetzten Buch „Versprich es mir“ eine gewisse Enttäuschung kund und wirft der Gedenkstätte vor, die damaligen Zustände zu beschönigen. Die Süddeutsche Zeitung berichtet: „Von Mannheimer war der Politiker sehr beeindruckt, weniger aber offenbar von der Gedenkstätte selbst. 2017 veröffentlichte Joe Biden ein autobiografisches Buch, in dem er der Gedenkstätte vorwarf, den Gedenkort umgestaltet zu haben, ‚um es für die Besucher weniger bedrückend zu machen‘. […] Sein Urteil stützt Joe Biden auf mehrere Besuche der Gedenkstätte Dachau, in den Achtziger Jahren mit Sohn Beau, später mit Sohn Hunter und Tochter Ashley. Damals habe er Namen gesehen, die Häftlinge in die hölzernen Bettgestelle in den Baracken geritzt hätten. 2015 hingegen kamen ihm die Betten ‚sauber‘, die Gestelle ‚frisch lackiert‘ vor. Die ‚grausamen Einzelheiten‘ seien über die Jahre ‚abgemildert‘ worden, schrieb Biden.“

Baracken 02

Ehemaliger Appellplatz, rechts das ehemalige Wirtschaftsgebäude, 2017 (Quelle: Rundgangsbroschüre, utzverlag, 2017, S. 41)

Baracken 2

Blick auf die ehemalige Lagerstraße und die rekonstruierten Baracken, 2017 (Quelle: Rundgangsbroschüre, utzverlag, 2017, S. 53)

Hier irrt der Präsident jedoch: Die Häftlingsbauten aus dem Dritten Reich sind Mitte der 60er-Jahre abgerissen und durch Nachbauten ersetzt worden. Der SPIEGEL berichtet, dass die Leiterin der KZ-Gedenkstätte dieses Problem durchaus reflektiert: „Besucher glaubten, sie stünden vor Originalen der NS-Zeit, und würden trotz entsprechender Hinweise nicht erkennen, dass es sich um eine ‚museale‘ Inszenierug handle. Und nichts sei aufgehübscht worden: ‚Die Stockbetten waren zu keiner Zeit lackiert. Ihr Zustand wurde auch nicht durch nachträgliche Reinigungsverfahren oder Ähnliches verändert.‘“

Diese Missverständnisse belegen, wie kompliziert die Gedenkstättenarbeit ist, denn es geht nicht nur darum, Geschichte zu präsentieren oder auszustellen, sondern auch, dem Betrachter zu einer Einordnung zu verhelfen. Dazu helfen originalgetreue Nachbauten eben besser als originale Trümmer und Ruinen, die nicht mehr auf ihren Zweck und auf ihre Funktion schließen lassen.

So gehört es zur Arbeit einer Gedenkstätte nicht nur, vor Ort zu informieren und Hintergründe zu schildern, sondern eben auch, Möglichkeiten zur Vor- und Nachbereitung des eigenen Besuches anzubieten. Neben vielen anderen Angeboten dienen dazu die Rundgangsbroschüren, die seit 2017 im utzverlag erscheinen. Sie sind in deutscher, englischer, polnischer, italienischer sowie in spanischer Sprache erhältlich sowie auch in Leichter Sprache jeweils als gedrucktes Heft wie auch als E-Book erhältlich.

Bereits seit 2007 erscheinen im utzverlag die „Dachauer Diskurse“, die sich mit dem Lager, der Gedenkstättenarbeit und der Nachkriegsgeschichte im Landkreis Dachau beschäftigen.

Sollte Joe Biden also vorhaben, der KZ-Gedenkstätte Dachau nun als US-Präsident einen offiziellen Besuch abzustatten, würde er durch das einschlägige Verlagsprogramm des utzverlags dazu bestens informiert.