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„Orchideenfächer“ – schön, aber irrelevant?

Von einer Debatte, die niemand braucht


Nicht erst seit der Bologna-Reform wird allenthalben die wohlfeile Debatte geführt, ob man nicht einzelne oder gar alle „Orchideenfächer“ an Universitäten abschaffen sollte (kann man Fächer „abschaffen“?), da kein Nutzen erkennbar sei, zu welchem sie gelehrt werden und worin eigentlich die verwertbaren Erkenntnisse aus ihrer Forschung bestehen. Ein Gastkommentar vom 12. September 2020 in der NZZ vom Schweizer Publizisten Toni Standler meint, Europa stehe wegen seiner Fixierung auf einen breiten Fächerkanon gegenüber vermeintlich innovativeren Bildungssystemen im Hintertreffen:
„Kontinentaleuropäischen Universitäten fehlt es – im Gegensatz zu asiatischen und den guten amerikanischen – an Prioritätensetzung. Unter Berufung auf die ‚Freiheit von Bildung und Forschung‘ aus Wilhelm von Humboldts Zeiten scheint jedes Fach, welches Hörsäle füllt, einen Lehrstuhl wert. Zu kurz kommen dabei die zweckhaften universellen Berufsfächer Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, welche weltweit gleich sind und die in Zeiten der Globalisierung alle Kulturen miteinander verbinden. Ist dies der Grund für den verpassten Anschluss EU-Europas an die IT-Zukunft?“ Humboldts Konzept sei, so Berger weiter, „auch missbraucht worden zur Schmückung von Gymnasien für Privilegierte oder zur Besitzstandswahrung für unnötige Lehrstühle.“

Dem widerspricht der Ordinarius für Griechische Philologie an der Universität Bern, Prof. Dr. Antons F. H. Bierl in der gleichen Zeitung am 19. Otober 2020 vehement: „Beliebtes Narrativ ist dabei, unter dem Zeichen von Bologna gegen das humboldtsche Bildungsideal der Einheit von Lehre und Forschung herzuziehen, dessen Prinzipien wie das Seminar die Spitzenuniversitäten aller führenden Nationen von Preußen übernommen haben. Den Beitrag gerade der Forschungsleistung zum Verständnis antiker Zeugnisse, zur Literatur und Materialität lässt Stadler einfach unberücksichtigt.“ Für sein eigenes Fach, die Gräzistik, postuliert Professor Bierl eine geradezu zwingende Aktualität: „Zudem hat sich die anthropologische Grundkonstellation nach höchstens 90 Generationen nicht fundamental im Vergleich zu heute verändert. Wer jemals erlebt hat, wie Homers ‚Ilias‘ oder ‚Odyssee‘, Sappho, Thukydides, die Vorsokratiker, Platon, die griechische Tragödie und Komödie die vielen Studierenden und Hörerinnen und Hörer von Vorlesungen, Kolloquien und Seminaren tief berühren und sie in ihren ‚menschlichen, allzu menschlichen‘ Grundbefindlichkeiten affizieren, wird erkennen, dass dies alles andere als Schöngeisterei ist.“

Es ist dies eine sehr müßige Debatte, da sie versucht, eine scheinbar ökonomisch ausgerichtete Weltsicht gegen tiefere Welteinsicht auszuspielen. Spätestens dann, wenn es um Mittel geht, ist auch noch der Neid im Spiel und der ist stets ein schlechter Mitstreiter, auf der einen wie auf der anderen Seite. Sparzwänge hier, Relevanzansprüche dort – doch worum geht es eigentlich im Kern?

Hinter den „Ökonomisierungsabsichten“, die nicht ausschließlich, aber doch häufig Geistes- und Kulturwissenschaften betreffen, stecken irrige Annahmen, etwa der Art, das Menschsein der Vergangenheit habe mit dem heutigen Menschsein nichts mehr zu tun, weil man heute doch viel gescheiter sei und kompetenter mit der Welt umgehe. Kulturelle Betätigung im Übrigen sei lediglich ein „nice to have“, hübsch anzusehen, drollig-verschroben manchmal, im Ganzen aber doch nicht mehr als Zeitvertreib für jene und von jenen, die der „harten“ Realität nicht ins Auge sehen möchten. Beides ist falsch. Der steinzeitliche Homo sapiens, der Mensch des Altertums oder der der frühen Neuzeit unterscheidet sich in seinen Bedürfnissen, Nöten, ökonomischen Zwängen und Notwendigkeiten, die Komplexität der Welt zu bannen, nur in sehr geringem Maße von uns. Zu allen Zeiten war kulturelles Handeln nicht der nette Überbau von Ökonomie und Gesellschaft, sondern deren Grundlage.

Es lohnt sich, diese Fächer einmal anzusehen, die doch so dringend auf den Prüfstand zu setzen seien. Einen breiten und tiefen Überblick gibt das Portal Kleine Fächer an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, das nicht nur eine Arbeitsdefinition für „Kleine Fächer“ liefert, sondern auch einzelne dieser Disziplinen von ihren Vertretern porträtieren lässt.

Professor Friedemann Kreuder, Theaterwissenschaftler an der Uni Mainz, stellt sein Fach und dessen Bedeutung so vor:  „[M]it der interdisziplinären Ausrichtung des Faches – sowohl kultur- als auch medienwissenschaftlich – steht neben der klassischen Analyse von Aufführungen heute auch verstärkt die Untersuchung der Darstellung in sozialen Medien im Fokus. Theaterwissenschaftler*innen sind also Expert*innen für Darstellung in jeder Form und an jedem Ort. […] Inhaltlich muss sich die Theaterwissenschaft in Zukunft zunehmend gesellschaftlichen Fragestellungen öffnen und Kooperationen beispielsweise in den Natur- und Humanwissenschaften finden. Denn eine der zentralen Aufgaben der Theaterwissenschaft sehe ich darin, sich damit zu beschäftigen, wie Klimawandel und globale Wirtschaftsbewegung zur Darstellung gebracht werden.“

Irrelevanz klingt anders.